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Artikel der LR-Online vom 18.11.2022

Verlorener Transport und Tröbitz Wie eine Holocaust-Überlebende im Land der Täter Freunde fand

LR-Online vom 18.11.2022

Die Holocaust-Überlebende Mirjam Lapid wollte mit Deutschland nie wieder etwas zu tun haben. Zu sehr haben sie und ihre Familie unter den Nazis gelitten, bis ihr Leidensweg 1945 in Tröbitz endete. Genau dort fand sie Jahre später gute Freunde.

  1. November 2022, 06:00 Uhr Tröbitz

Ein Artikel von Dieter Babbe

Mirjam Lapid (89) und Werner Mann (88) vor dem ehemaligen Wohnhaus von Mirjam Lapid in der Hauptstraße 10 in Tröbitz
© Foto: VRS

 

Familie Lapid besuchte jene Stelle an der Bahnstrecke, wo der Todeszug zum Stehen kam.
© Foto: Dieter Babbe

„Nie wieder Deutschland!“ Das stand für Mirjam Lapid felsenfest. Zu viel Grausamkeit hatten die Deutschen ihrer Familie und vielen anderen Juden angetan. Millionen von ihnen sind in Gaskammern der Konzentrationslager qualvoll verreckt, wenn sie nicht schon vorher an Unterernährung oder Krankheiten verstorben waren. Mit diesem Land wollte Mirjam Lapid nichts mehr zu tun haben. Und dann kam jener Tag, als sie nach Norwegen in den Urlaub wollte. „Da mussten wir in Deutschland haltmachen. Alles kam wieder hoch.“

Dabei habe sie noch „zu den Glücklichen gehört“, wie die Frau selbst sagt. In der niederländischen Stadt Utrecht geboren und zur Schule gegangen, sind sie und ihre Familie im April 1943 von Deutschen in ein Amsterdamer Ghetto transportiert worden. „Zwei Monate später wurden wir, meine zwei Brüder, meine Schwester und meine Eltern, in das Durchgangslager Westerbork deportiert. Hier sind wir nicht mehr als Menschen behandelt worden. Ich durfte nicht mehr in die Schule oder ins Kino gehen, ich musste mein Fahrrad abgeben. Das Schlimmste für mich: Ich bin gezwungen worden, einen gelben Stern an der Kleidung zu tragen.“

Mirjams Vater stirbt im KZ an Unterernährung

Doch das Allerschlimmste kam erst noch, als die Familie in das deutsche Konzentrationslager Bergen-Belsen deportiert wurde. Katastrophale Zustände sorgten dafür, dass Mirjams Vater im Februar 1945, nur sechs Wochen vor der Befreiung, an schwerer Unterernährung und Erschöpfung verstorben ist. Als die Kriegsfronten immer näher rückten, haben die Nazisihre grausamen Spuren beseitigen wollen und Tausende jüdische Häftlinge in drei Güterzüge gepfercht, um sie zur Vernichtung in das KZ Theresienstadt zu bringen.

Nach zweiwöchiger Irrfahrt durch Norddeutschland blieb der letzte Zug, der als Verlorener Transport in die Geschichte einging, unweit vom kleinen Dorf Tröbitz im heutigen Brandenburg, Landkreis Elbe-Elster, stehen. Am Morgen des 23. April haben Sowjetsoldaten die Waggontüren geöffnet. Die Wachmannschaft war schon am Vortag getürmt.

 

Mirjam war damals zwölf Jahre alt. Viele Häftlinge im Zug litten an Unterernährung, weil sie während der Fahrt nicht verpflegt wurden. Sie waren schwer krank und mehr tot als lebendig. Bei jedem Halt wurden Verstorbene nahe der Bahnstrecke von Mithäftlingen notdürftig begraben. „Daran kann ich mich nicht erinnern“, sagt Mirjam und meint wohl: Sie versucht bis heute, das schreckliche Leid von damals zu verdrängen.

Von den Tröbitzern gut aufgenommen

In Tröbitz fühlte sich Mirjam dann „sehr glücklich“. Von ihren sechs Familienmitgliedern haben fünf überlebt. Auch wenn das Mädchen ihren 12. Geburtstag im Todeszug erlebte, so war der Tag danach für sie ein Freudentag. Ihre an Typhus erkrankte Mutter, von der man glaubte, dass sie sterben werde, sei von der Pritsche gefallen und so aus ihrem Koma erwacht.

Von Tröbitzern sei die Familie gut aufgenommen worden, erinnert sich Mirjam Lapid – „die Russen waren unsere Befreier, aber die Menschen in Tröbitz unsere Engel“, würdigt sie die Dorfbewohner von damals.

Nach zwei Monaten kehrte sie mit ihrer Familie nach den Niederlanden zurück, bevor sie 1953 nach Israel übersiedelte, wo sie seit dem in einem Kibbuz lebt und auch in der Leitung mitarbeitete. Als in den 60er-Jahren Jugendgruppen aus vielen Ländern das Leben in solch einem Kibbuz kennenlernen wollten, gab es auch Anfragen aus Deutschland. „Als Holocaust-Überlebende bin ich gefragt worden, ob ich Deutschen wieder so nah sein möchte. Ich kam zu dem Schluss: Junge Menschen sind nicht verantwortlich für das, was ihre Eltern oder Großeltern uns angetan haben. Also haben wir auch deutsche Jugendliche eingeladen“, hat Mirjam Lapid mitentschieden. Damit ließ sie zu, dass ihre Erinnerungen wieder wach wurden.

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Mit Werner Mann 2007 auf Spurensuche in Tröbitz

Und auch ihre Familie wollte wissen, wo die Mutter und Großmutter in Deutschland gelitten hat. Doch zunächst reiste die Jüdin 2007 allein in das Land, das sie „nie wieder“ besuchen wollte. Auf der Suche nach jenem Haus in Tröbitz, wo ihre Familie 1945 unterkam, stieß sie zufällig auf Werner Mann, Ex-Bürgermeister der Gemeinde. „Mirjam konnte sich nur erinnern, dass im Garten ein großer blühender Kirschbaum stand. Wir sind die Grundstücke abgegangen und haben den Garten gefunden – obwohl der alte Kirschbaum nicht mehr stand“, erinnert sich Werner Mann.

Er und Mirjam, beide etwa gleichaltrig, waren 1945 wenige Wochen Nachbarn im Dorf, sind sich allerdings nicht bewusst über den Weg gelaufen – dafür mehr als sechs Jahrzehnte später. Aus dieser spontanen Begegnung auf der Dorfstraße entstand eine enge Freundschaft zwischen der Jüdin und dem Deutschen, die bis heute anhält. „Wir können uns nicht so oft treffen. Aber wir schreiben uns Mails und Briefe. Wenn Werner mal nicht gleich antwortet, weil er seinen Enkel als Übersetzer braucht, werde ich ungeduldig“, sagt Mirjam Lapid.

2015 nahm Mirjam Lapid ihre große Familie mit fünf Kindern und 14 Enkelkindern mit nach Deutschland, zeigte ihnen bei einer „Tour der Erinnerung“ die Gedenkstätte Bergen-Belsen und Tröbitz, den Ort ihrer Befreiung. Dort gab es ein herzliches Wiedersehen mit ihrem Freund Werner und dessen Familie. Die Manns sind für Mirjam „das gute Deutschland“. Werner und den Tröbitzern hat sie in Israel zur Würdigung ihrer humanistischen Tat 18 Bäume gepflanzt. „Gemeinsam mit dir hat das Gute das Böse besiegt“, heißt es in einem Eintrag im Goldenen Buch der Organisation Jewish National Fund, wo Mirjam Lapid allen Tröbitzern dankt, die das Andenken an die Menschen im Verlorenen Transport – die Toten wie die Überlebenden – wachhalten.

Werner Mann und alle Tröbitzer sind in Israel mit einer Baumpflanzung gewürdigt worden.
© Foto: Dieter Babbe

Damit diese Freundschaft weiterlebt

Als dieser Tage eine Ausstellung zu Kinderschicksalen des „Verlorenen Transports“ im Technischen Denkmal Brikettfabrik Louise eröffnet wurde, ist die 89-jährige Mirjam als eine der wenigen noch lebenden Zeitzeugen in Domsdorf dabei. Gern sei sie gekommen, auch weil sie noch einmal ihren „Freund Werner, seine Frau Helga, die Tochter Carola, den Enkel Patrick und seine Kinder Felix und Paula wiedersehen wollte. Vielleicht das letzte Mal.“ Hand in Hand gingen Werner und Mirjam in der Dorfstraße entlang, drückten sich, als wollten sie voneinander Abschied nehmen. „Wir sind beide in einem Alter, dass wir uns eine anstrengende lange Reise nicht mehr zutrauen werden“, sagt Werner Mann.

Wanderausstellung „Wer ein Leben rettet – Lebensgeschichten von Kindern des Verlorenen Transports“ Überlebende Mirjam Lapid (89) neben ihrem Bild auf der Tafel.
© Foto: VRS

 

Mirjam umarmt auch Werners Enkel Patrick und die Urenkel Felix und Paula so, als wären es ihre eigenen. Sie lädt die jungen Leute nach Israel ein – damit diese enge deutsch-jüdische Freundschaft auch in Zukunft nicht zerreißt.

Weitere Artikel über den Verlorenen Transport finden Sie auf unserer Themenseite auf LR.de.

 

https://www.lr-online.de/lausitz/finsterwalde/verlorener-transport-und-troebitz-wie-eine-holocaust-ueberlebende-im-land-der-taeter-freunde-fand-67636739.html